Kennt ihr dieses Gefühl, wenn sich Fotoalben füllen und plötzlich jemand fragt: “Mama, wo warst du eigentlich?” Welche Fotos gibt es von euch, die nicht im Selfie-Modus geschossen sind? Und welche Momente haltet ihr fest? Lohnt es sich, auch die schweren und tiefen Momente in ein Bild zu packen? Und wie wird dieses Thema “Mama” eigentlich gezeigt?
Wir sind im Gespräch mit Natalie von Sandsackfotografie, sie steht für dokumentarische Familienfotografie. Was das ist und welche wertvollen Tipps sie für euch hat, erfahrt ihr hier!
- Dokumentarische Familienfotografie – warum?
- Mama, wo warst du eigentlich?
- Alltagsmomente festhalten – was ist wichtig daran?
- Die Kinder müssen nicht "mitmachen"!
- Die größten Herausforderungen der Familienfotografie
- Das Bild der "Mutter"
- Wie wichtig sind Geburtskarten?
- Zwei Dinge, die ihr nicht vergessen solltet!
Dokumentarische Familienfotografie – warum?
Ausgangspunkt deiner dokumentarischen Arbeit ist ein persönliches Erlebnis in einem Fotostudio: Kurz nach der Entbindung, mit zwei Kleinkindern, zwei Stunden Autofahrt, Fotostudio und dann auch noch Lachen auf Knopfdruck. Puh. Wie läuft so ein Shooting denn bei dir ab? Und was sollten Familien beachten?
Natalie: Oft ist der erste Schritt eine Anfrage per Mail oder Instagram, kommt es zur Buchung, telefoniere ich gern mit der Familie und wir finden heraus, ob wir zusammenpassen. Denn Vertrauen ist die wichtigste Voraussetzung für ein dokumentarisches Shooting. Die Menschen vor meiner Kamera müssen sich sicher fühlen, um sich verletzlich und echt zeigen zu können. Wir machen aus, um welche Uhrzeit wir uns treffen, dabei ist nicht das beste Licht die wichtigste Komponente, sondern was die Familie festhalten möchte. Ich stelle Familien immer folgende Frage: An was möchtet ihr euch erinnern?
Ich schlage oft vor, bei bestimmten Familienritualen dazuzukommen. Das kann auch ein gemeinsames Frühstück, Zähneputzen oder Waffelbacken am Sonntag sein. Am Tag des Shootings trinken wir erst einen Kaffee zusammen, sprechen miteinander und lernen uns kennen. Ich möchte wissen, wie es den Familien geht, wie sie fühlen. Dabei sind alle Gefühle wichtig und haben Platz. Denn: Alle sollen sich bei sich zu Hause wohlfühlen.
Ich als Fotografin beobachte, warte und vertraue darauf, dass diese Momente passieren. Ich bin immer mindestens 90 Minuten da. Da passiert so viel Leben! Mein Auge versucht dann, bestimmte Momente herauszugreifen und künstlerisch in Szene zu setzen.
"Familie" beschreibst du als kleinen Mikrokosmos, dessen Rituale und scheinbar kleine Momente am Ende ein Ganzes erzählen. Bei welchen Momenten begleitest du Familien?
Natalie: Eine Familie liebt es zum Beispiel, wie sie mit dem Hund Gassi geht, bei anderen ist die Situation des Nachhausekommens besonders.
Viele Menschen möchten auch Bilder von ihrem Wochenbett oder von den ersten zehn Stunden nach der Geburt. Wenn ihr im Wochenbett seid, ist euer Baby oft vormittags entspannter. Da richte ich mich nach dem Rhythmus der Familie. Wenn Babys gebadet werden oder die Hebamme kommt, sind das ebenso wunderschöne Momente.
Ein Tipp: Vertraut darauf, dass schöne Fotos entstehen. Viele meiner Kund:innen haben im Vorfeld Angst, dass sie nur das Chaos in den Bildern sehen. Bei der dokumentarischen Fotografie geht es um das Festhalten echter Emotionen, Momente und Verbindungen! Und nicht um deren Bewertung. Das ist nur mit Vertrauen auf beiden Seiten möglich. Und es ist ein großes Privileg, dass ich das schon so oft bekommen habe.
Mama, wo warst du eigentlich?
Was war für dich der Auslöser, dass du Selbstporträts von dir machst?
Natalie: Mein zweites Kind fragte mich einmal: “Mama, wo warst du eigentlich, als wir im Urlaub waren?” Da ist mir aufgefallen: Ich tauchte auf fast gar keinem Foto auf, obwohl ich im Urlaub dabei war! Denn ich stand bis dahin immer hinter der Kamera. Also begann ich, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Warum bin ich eigentlich nicht auf den Bildern? Hat das einen gesellschaftlichen Bezug? Wie geht es anderen Müttern und primären Sorgepersonen. Und vor allem: Wieso ist das niemandem aufgefallen?
Da fing ich an, Selbstportraits zu machen und mein Umfeld zu befragen: Habt ihr eigentlich Bilder aus dem Alltag? Von euch?
Natürlich gibt es Bilder im klassischen Sinne, wie im Fotostudio oder Selfies. Aber wie sieht es mit Bildern aus dem Alltag aus? Bilder in der Rolle als Mama und Sorgeperson. Wie ich meine Kinder tröste, kleine Rituale oder Alltägliches, scheinbar Belangloses. Aber genau das ist mir besonders wichtig als Fotografin!
Alltagsmomente festhalten – was ist wichtig daran?
Warum sind diese Alltagsmomente und kleinen Rituale so wichtig?
Natalie: In solchen Momenten sieht man, wie sich alle zueinander verhalten. Bilder von diesen Momenten sind eine Art Familiengedächtnis, sie zeigen Verbindungen, Emotionen und Intimität. Zudem schaffen es Bilder, uns diese Situation und Emotion zurückzuholen. Sie erinnern uns an Dinge, die wichtig für uns waren oder uns geprägt haben und die wir sonst vielleicht vergessen hätten.
Zum Beispiel: Wie sah unser Kinderzimmer aus? Oh mein Gott, wie viel Wäsche hatten wir einfach! Und schau, die Wandfarbe – scheinbar belanglose Dinge, die man dann rekapituliert. Dazu gehören auch
Momente der Traurigkeit.
Ich will Menschen die Chance auf einen Rückblick geben, der etwas in ihnen auslöst: Wehmut, Freude, ein Schulterklopfen: Schau, was wir alles geschafft haben, als Familie! Das ist doch fast genauso wichtig oder sogar wichtiger als die großen Meilensteine! Es muss nicht perfekt sein.
Ich will die Verbindung zwischen den Menschen zeigen, weg von der Bewertung, wie etwa "war ich schön?". Ich möchte die Aufs und Abs des Lebens festhalten und feiere jeden kleinen Moment dieser Familien, die eben nicht inszeniert werden, sondern auf den Bildern so sein dürfen, wie sie sind und damit nicht unbedingt einer gesellschaftlich “schönen” Art entsprechen müssen.
Es ist bewegend, zu sehen, wie Menschen auf diese Art von Bildern reagieren. Da gab es zum Beispiel eine Mutter, die erst im Bild wahrgenommen hat, wie sie ihr Kind tröstet und wie sie sich verhält. Die Bilder haben eine besondere Stärke in ihr ausgelöst. Du bist eben nicht nur die gestresste Mutter, die mit 1000 Dingen jongliert, schau, wie liebevoll und stark du in all diesen kleinen Momenten bist!
Die Kinder müssen nicht "mitmachen"!
Welche Sorgen sollten sich Familien nicht machen?
Natalie: Die größte Angst bei Sorgepersonen ist oft, dass die Kinder nicht mitmachen oder einfach keine Lust haben. Und das ist total okay. Ich verstehe natürlich, dass man "schöne" Bilder möchte. Die Kids merken aber schnell, dass ich sie nicht mit künstlichen Situationen “nerve”, oder sie zu einem Lachen zwinge. Sie sehen, dass ich sie sehen will, fühlen sich ernst genommen und möchten gleichzeitig Teil der Gemeinschaft sein. Das kommt von ganz allein. Bei der dokumentarischen Familienfotografie geht es darum, Menschen so zu sehen und zu zeigen wie sie sind und wie ihr Leben um sie herum ist. Es geht nicht um Erwartungen. Und das kann schmerzhaft und wundervoll zugleich sein.
Die größten Herausforderungen der Familienfotografie
Wenn du fotografierst, was sind deine größten Herausforderungen?
Natalie: Als Soziologin fällt mir auf, dass wir alle mit einem bestimmten Mutter- und Schönheitsideal sozialisiert wurden. Besonders Mütter und primäre Sorgepersonen wollen gesellschaftlichen Erwartungen gerecht werden. Das ist natürlich menschlich, kann aber auch gleichzeitig diskriminieren: Der Körper soll
straff sein, das Aussehen wie mit zwanzig, die „gute Mutter“ soll lohnarbeiten, als hätte sie keine Kinder – und Kinder erziehen, als hätte sie keine andere Rolle in ihrem Leben. Mir fällt auf, wie schwer Menschen es “ertragen”, sich in diesem neuen Körper nach der Geburt oder während der Schwangerschaft wirklich zu
sehen. Und dabei geht es mir in erster Linie nicht um Selbstliebe, denn das erfordert viele Kapazitäten. Ich würde mir wünschen, dass wir durch die dokumentarische Familienfotografie erst mal einen neutralen Blick auf uns schaffen, auf andere Mütter*, Sorgepersonen, Familien.
Mir ist sehr bewusst, dass Fotografie auch Erwartungen reproduziert. Deshalb möchte ich Mütter nicht nur mit Fürsorgearbeit in Verbindung bringen, zum Beispiel beim Wäscheaufhängen. Ich versuche, sie auch auch in anderen Rollen zu zeigen, etwa wie sie sich auf dem Sofa ausruhen oder wie sie bei einer Party auflegen. Ich will Lebensrealitäten und auch Familien in allen Facetten darstellen – eben nicht nur die “Bilderbuchfamilie”. Denn Bilder schaffen Realitäten und das, was wir wahrnehmen, prägt uns.
Natürlich ist es auch ein Privileg, eine Fotografin für Fotos zu beauftragen, seine Wohnung und auch sich selbst zeigen zu können. Viele Menschen erfahren Stigmatisierung, wenn sie sich verletzlich zeigen und eben nicht die schönsten, hippsten Möbel oder auch nur genug Räume haben.
Das Bild der "Mutter"
Natalie: Das Mutter-Ideal empfinde ich in der Gesellschaft als sehr traditionell, was durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt ist. Was ist eine gute Mutter? Da kommt: aufopferungsbereit, immer da, selbstlos, liebevoll, bedürfnisorientiert. Das sind gesellschaftliche Erwartungen, die über Jahrzehnte konstruiert wurden. Und so wird “die Mutter” dann oft auch auf Bildern in Werbung, Fotografie und Filmen gezeigt.
Ich persönlich nehme schon wahr, dass zum Beispiel bei meinen Ausstellungen Aussagen von Müttern aufstoßen, wenn sie dem Mutterideal nicht entsprechen. Je mehr das Bild vom Ideal abweicht, desto mehr wird stigmatisiert. Aber es gibt nun einmal diverse Lebensrealitäten – und die will ich zeigen! Auch Mütter ruhen sich aus, legen bei Parties auf oder brauchen Zeit für sich.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Natalie: Ich wünsche mir diversere Darstellungen von Körpern, von Familienformen, von Menschen – und neue Konzepte von Mutter- und Elternschaft. Ich möchte zeigen, was ich sehe und was da ist! Nicht mehr und nicht weniger.
Als Soziologin in dieser Branche wünsche ich mir, dass Fotograf:innen sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst werden. Dass wir mehr über strukturelle Ungleichheit nachdenken, was das auch mit Fotografie zu tun hat. Denn es ist wichtig, was wir zeigen und wie wir es zeigen, und vor allem auch, wer es zeigen darf und wer gesehen wird. Hier fehlt es meiner Meinung nach noch an Diskursen und Debatten. Darüber will ich reden!
Wie wichtig sind Geburtskarten?
Natalie: Geburtskarten sind für mich Erinnerungen, die zu kleinen Kunstwerken werden. Ich liebe es, wenn Menschen Bilder ausdrucken und andere an ihren Leben teilhaben lassen (lacht). Ich staple alle Geburtskarten, die ich bisher bekommen habe, bei mir zu Hause, das ist wie eine kleine Beziehung mit anderen Menschen festzuhalten. Es bedeutet mir wahnsinnig viel, wenn Menschen an mich denken.
Außerdem sind Ausdrucke, Alben und alles, was man berühren kann, auch total schön für Kinder. Ich merke das bei meinen. Die staunen über die Menschen, die sie einmal waren. Ich finde das wahnsinnig schön, wenn Bilder aus dem digitalen Universum heraustreten und Karten und Alben richtig angefasst werden können. Kinder “be-greifen” schöne Momente.
Zwei Dinge, die ihr nicht vergessen solltet!
Hast du noch zwei Tipps am Ende für Eltern und Sorgepersonen?
Natalie: Fotografiere dich selbst und lass dich fotografieren! Es ist ein langer Weg, aber es ist wert ihn zu gehen. Es ist so wichtig, dich selbst zu sehen und dich so wahrzunehmen, wie du bist. Schau dich an, deinen Körper, deine Persönlichkeit, je mehr du dich siehst, umso neutraler kannst du auch mit dir selbst umgehen.
Das Alltägliche im Leben verblasst so schnell. Das ist aber genau das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt so wichtig war, um daraus für die Zukunft zu lernen. Ich zum Beispiel liebe genau aus diesem Grund Erinnerungsboxen mit Bildern und Texten.
Und lasst euch bitte nicht unter Druck setzen. Es ist so ein wahnsinniges Privileg, die Zeit zu haben, sich zu fotografieren und Menschen um sich herum zu haben, die diese Bilder von dir machen. Es ist nie zu spät anzufangen, und für den Start reicht auch ein Zettel und ein Selfie.
Natalie Stanczak ist studierte Soziologin und die dokumentarische Fotografin hinter Sandsackfotografie aus Augsburg. Sie dokumentiert Familien und vereint Kunst und politisches Engagement. Außerdem ist sie Gründerin von Faces of Moms. Ihr ist es wichtig, nicht nur die schönen Momente im Leben einzufangen, sondern ganzheitlich zu fotografieren. Sie macht strukturelle Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sichtbar. Denn: Überforderung und unbezahlte Sorgearbeit haben langfristige Auswirkungen auf Sorgepersonen und Frauen an sich, die gesellschaftlich mit der Liebe der Mutter weggelacht werden, am Ende aber finanzielle Risiken für Frauen darstellen. Faces Of Moms will Sorgearbeit sichtbar machen und über Profit und die “Mutti-machts-schon”-Mentalität stellen.